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Am 05.04.2023 wurde Finnland als 31. Mitglied in die NATO aufgenommen. Lange Zeit blockierte die Türkei den Antrag Finnlands auf NATO-Mitgliedschaft, stimmte jedoch schlussendlich zu. Anders sieht es bei Schweden aus. Ankara besteht darauf, dass Schweden sogenannte „Terrorverdächtige“ ausliefern muss. Erdogan nutzt den schwedischen NATO-Antrag, um Schweden und den USA Zugeständnisse abzuringen (und so zum Beispiel die Wiederaufnahme der Türkei in das US-Kampfflugzeugprogramm F-35 zu erreichen). Jedoch: Die Karten könnten nach den Präsidentschaftswahlen im Mai neu gemischt werden. Bis dahin wird die schwedische und türkische Innenpolitik der entscheidende Faktor für Schwedens NATO-Beitritt bleiben.

Atıl Tuna Yalçı, 29. März 2023

Der Krieg in der Ukraine hat Finnland und Schweden dazu veranlasst, am 18. Mai 2022 einen Antrag auf NATO-Mitgliedschaft zu stellen. Die nordischen Länder erhoffen sich von einem Beitritt zur NATO eine Stärkung ihrer Sicherheit, insbesondere gegenüber Russland.

Am 17. März 2023 kündigte Präsident Erdogan bei einem Treffen mit dem finnischen Präsidenten Sauli Niinistö an, dass das türkische Parlament den Beitritt Finnlands in den kommenden Wochen aufgrund der von Finnland unternommenen „konkreten Schritte“ unterstützen werde. Auch das ungarische Parlament hat den Antrag Finnlands auf NATO-Beitritt am 27. März 2023 endlich ratifiziert.

Hingegen stagniert der schwedische Antrag auf NATO-Mitgliedschaft weiterhin. Der Antrag Schwedens wurde von 28 der 30 NATO-Mitglieder ratifiziert, nur Ungarn und die Türkei fehlen noch.

Zuvor hatte Ungarn nach der zweiten Runde der trilateralen Gespräche zwischen der Türkei, Schweden und Finnland am 9. März 2023 signalisiert, dass es in Bezug auf den schwedischen Ratifizierungsprozess positiv vorankommt. Die Türkei hingegen blockiert nach wie vor den schwedischen Beitrittsantrag. Erdogan bekräftigte erneut, dass Schweden 130 „Terrorverdächtige“ ausliefern müsse, die die Türkei Mitte Januar 2023 auf die schwarze Liste gesetzt habe.

Die zweite Runde der trilateralen Gespräche war ursprünglich für Februar 2023 angesetzt, wurde aber nach den Vorfällen um die Verbrennung eines Korans in Schweden durch den dänischen Rechtsextremisten Rasmus Paludan, sowie nach Anti-Erdogan-Protesten in Stockholm abgesagt. Dies löste eine diplomatische Krise zwischen der Türkei und Schweden aus, und verzögerte die Zustimmung der Türkei zu Schwedens NATO-Beitritt weiter.

Nach dem Vorfall bekräftigte Erdogan das Veto der Türkei gegen den schwedischen Antrag auf NATO-Mitgliedschaft mit der Begründung, Schweden unterstütze zwei Organisationen, die von der Türkei und anderen Ländern als terroristisch eingestuft werden, nämlich die PKK (Kurdische Arbeiterpartei) und die FETO („Fetullahistische Terrororganisation“). Am 24. Januar 2022 erklärte Erdogan: „Erwarten Sie von uns keine solche Unterstützung. Die Tatsache, dass dieser verabscheuungswürdige Angriff auf den heiligen Koran vor der türkischen Botschaft stattfand, macht die Angelegenheit für uns zu einer nationalen und religiösen Angelegenheit.“

Zuvor hatten die Türkei, Schweden und Finnland im Juni 2022 ein trilaterales Memorandum unterzeichnet, in dem sich die Türkei bereit erklärte, die NATO-Beitrittsgesuche Schwedens und Finnlands zu unterstützen, wenn die beiden Länder im Gegenzug jegliche Unterstützung für die Aktivitäten der PKK und der FETO aufgeben, die nationalen Anti-Terror-Gesetze verschärfen und die Waffensanktionen gegen die Türkei aufheben.

Als Reaktion auf die Bedingungen der Türkei kündigten Finnland und Schweden im September 2022 die Aufhebung des Verbots von Waffenexporten in die Türkei an, das nach der Militäroffensive der Türkei in Nordsyrien gegen die YPG (Yekîneyên Parastina Gel) im Jahr 2019 verhängt worden war.

Darüber hinaus hat das schwedische Parlament Mitte Januar 2023 eine Reihe von Verfassungsänderungen beschlossen und gebilligt, die die Beteiligung an und Aktivitäten zur Unterstützung von Terrororganisationen auf breiterer Ebene verbieten. Das neue Anti-Terror-Gesetz, das kürzlich vom schwedischen Parlament verabschiedet wurde, baut auf diesen Änderungen auf und wird am 1. Juni 2023 in Kraft treten.

Es wird erwartet, dass sich diese Maßnahmen auch auf Aktivitäten der PKK sowie der YPG und er PYD (Partiya Yekîtiya Demokrat) auswirken werden. Schweden entspricht somit der  Forderung Ankaras, dass mehr gegen diese Gruppen zu unternehmen.

Ankara behauptet, die YPG und die PYD, die ausschließlich in Syrien ansässig sind, stünden mit der PKK in Verbindung und seien in Anschläge gegen die Türkei verwickelt. Diese Einschätzung wird von der EU und den USA nicht geteilt. Im Gegenteil, diese Gruppen werden von den westlichen Verbündeten als essenziell im Kampf gegen den IS gesehen.

Kritiker des neuen Gesetzes und insbesondere die in Schweden lebende kurdische Gemeinschaft befürchten, dass die Gesetzesänderungen zu einer verstärkten Kontrolle und einer allgemeinen Einschränkung ihrer Rechte führen werden.

Schwedische Beamte hingegen betonen, dass es keine Änderungen an den Gesetzen zur Meinungsfreiheit geben wird. Auch hat Schweden seit 2019 bis auf einen Fall keiner Auslieferung mehr zugestimmt. Nach Ansicht der schwedischen Gerichte fällt die Auslieferung der 130 Personen, die von der Türkei als Terroristen auf die schwarze Liste gesetzt wurden, unter die Meinungsfreiheit und das Recht auf Asyl.

Die türkische Innen- und Parteipolitik hat in Bezug auf Schwedens NATO-Beitritt zunehmend an Bedeutung gewonnen. Der Grund dafür ist der „antiwestliche“ Diskurs, Erdogans, in dem er dem Westen die Schuld an den wirtschaftlichen und politischen Schwierigkeiten der Türkei gibt.

Die Hauptakteure des Oppositionsbündnisses, CHP und HDP, das am 26. Januar 2023 zusammen mit vier weiteren Parteien gebildet wurde, sind anderer Meinung. Sie kritisieren die zentralisierte Präsidialherrschaft, unter der Erdogan die traditionellen außenpolitischen Ziele der Türkei, die auf Realismus und der Aufrechterhaltung historisch guter Beziehungen sowohl zum Westen als auch zu Russland beruhen, ins Gegenteil verkehrt hat. Auch ist das Oppositionsbündnis dafür, dem schwedischen NATO-Beitritt nicht länger im Wege zu stehen (mit Ausnahme der İYİ, einer nationalkonservativen Partei, die sich weiter dagegen ausspricht).

Ob Schweden am nächsten NATO-Gipfel in Vilnius am 11. Und 12. Juli 2023 der NATO beitreten kann, hängt also zu einem großen Maß von dem Ergebnis der türkischen Präsidentschaftswahlen im Mai 2023 ab. Damit bewahrheitet sich einmal wieder die berühmte Feststellung von Tip O’Neil, einem ehemaligen Sprecher des US-Repräsentantenhauses: Politik ist eine gänzlich lokale Angelegenheit („all politics is local“ – Tip O’Neill, 1932).

Picture: Flaggen der NATO, Turkei, Finnland und Schweden 31 Mai 2022. © IMAGO /Steinach
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