Nach 23 Jahren hat der Internationale Strafgerichtshof erstmals einen Darfur-Kriegsverbrecher verurteilt – doch weiterhin betreffen alle Schuldsprüche wegen Gräueltaten ausschließlich Afrika. Das befeuert den Vorwurf, der Gerichtshof spreche einigen Gerechtigkeit zu, während er die Mächtigen frei ausgehen lässt.

Michael Asiedu
12 November 2025
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Am 6. Oktober 2025 schrieb der Internationale Strafgerichtshof Geschichte. Ali Muhammad Ali Abd-Al-Rahman, bekannt als Ali Kushayb, wurde in 27 Fällen von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig gesprochen. Sechsundfünfzig ZeugInnen schilderten Gräueltaten, die jedes Gewissen verfolgen müssten – niedergebrannte Dörfer, Massenexekutionen, Vergewaltigungen als Waffe des Terrors. Bis zu 300.000 Menschen kamen während des Darfur-Konflikts zwischen 2003 und 2005 ums Leben.

Nach zwei Jahrzehnten hörten die Opfer endlich das Wort „schuldig“. Doch dieser Triumph ist von einer unbequemen Wahrheit überschattet: Jede Person, die der IStGH bislang wegen Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt hat, stammt aus Afrika.

Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Von 54 Personen, die seit 2002 angeklagt wurden, stammen 47 aus Afrika. Insgesamt hat das Gericht 11 Schuldsprüche gefällt, doch die sechs Verurteilungen wegen zentraler internationaler Verbrechen – Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit – betreffen ausschließlich afrikanische Staatsangehörige aus der DR Kongo, Mali und Uganda. Kein Wunder also, dass Kritiker vom „Afrika-Gericht“ sprechen. Ruandas Präsident Paul Kagame fand klare Worte: Der Gerichtshof diene dazu, „Afrikaner und andere aus armen Ländern anzuklagen“. Und die Frage des früheren Vorsitzenden der Afrikanischen Union (AU), Jean Ping, schneidet noch tiefer: „Warum nicht Argentinien? Warum nicht Myanmar? Warum nicht Irak?“

Das sind keine abwehrenden Ausflüchte. Auch afrikanische AktivistInnen der Zivilgesellschaft, die sich für Rechenschaft einsetzen, stellen dieses Muster infrage. Es geht nicht darum, ob Kushayb die Verurteilung verdient hat – die Beweislage ist erdrückend. Die Frage lautet vielmehr, ob mächtige Täter außerhalb Afrikas jemals mit derselben Konsequenz zur Verantwortung gezogen werden.

Der IStGH ist durchaus mutige Schritte gegangen. Im März 2023 erließ er einen Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten Putin – erstmals gegen ein ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats. Im November 2024 folgten Haftbefehle gegen Israels Premierminister Netanyahu und den ehemaligen Verteidigungsminister Yoav Gallant wegen mutmaßlicher Verbrechen in Gaza, darunter Völkermord und der Einsatz von Hunger als Kriegswaffe. Im Januar 2025 geriet die Taliban-Führung wegen geschlechtsspezifischer Verfolgung ins Visier.

Diese Schritte zeugen zweifellos von Mut. Sie lösten jedoch auch erbitterte Reaktionen aus. Der frühere US-Präsident Biden bezeichnete die Haftbefehle gegen Netanyahu als „empörend“. US-Senator Lindsey Graham drohte Kanada, Großbritannien, Deutschland und Frankreich mit Sanktionen, sollten sie den IStGH unterstützen. Russland erließ Gegenerlassungen gegen Gerichtsoffizielle. Zudem sah sich der Gerichtshof Cyberangriffen und Versuchen der Infiltration ausgesetzt.

Doch Haftbefehle sind keine Verurteilungen. Putin regiert weiterhin unbehelligt und reiste sogar in die Mongolei – einem IStGH-Mitgliedsstaat, der sich weigerte, ihn festzunehmen. Netanyahu bleibt im Amt, wenn auch unter Druck. Er fliegt inzwischen weite Umwege und meidet europäischen Luftraum aus Angst vor Notlandungen in Staaten, die den Haftbefehl vollstrecken könnten. Die Achillesferse des Gerichtshofs bleibt bestehen: Er hat keine eigene Polizei und ist vollständig auf die Mitgliedsstaaten angewiesen, um Festnahmen durchzusetzen.

Diese Schwäche ist keineswegs neu. Der frühere sudanesische Präsident al-Baschir, 2009 wegen Völkermords angeklagt, bereiste 19 Länder – neun davon Unterzeichnerstaaten des IStGH – ohne je Handschellen zu sehen. Die AU erklärte sogar, ihre Mitglieder „würden nicht kooperieren“. Nach seinem Sturz 2019 sitzt al-Baschir in Sudan – und nicht in Den Haag.

Diese Versäumnisse in der Rechenschaftspflicht führten zu Austrittsversuchen. 2016 kündigten Burundi, Südafrika und Gambia an, das Römische Statut zu verlassen, auch wenn die beiden letzteren ihre Entscheidung später zurücknahmen. Die Afrikanische Union verabschiedete 2017 eine unverbindliche „Ausstiegsstrategie“ aus dem IStGH, die jedoch keinen kollektiven Rückzug vorsah. Dennoch hielt der systematische Widerstand an. Im September 2025 erklärten die Staaten der Sahel-Allianz – Mali, Burkina Faso und Niger – gemeinsam ihren Austritt und bezeichneten den Gerichtshof als „neokoloniales“ Instrument. Dieser koordinierte Schritt markiert keine isolierten Abgänge, sondern eine organisierte regionale Gegenbewegung – ein deutliches Zeichen für die anhaltende Legitimitätskrise des Gerichts auf dem afrikanischen Kontinent.

Hinter dem politischen Theater steht ein anderes Problem: finanzielle Austrocknung. Der Haushalt des IStGH belief sich 2024 auf rund 187 Millionen Dollar. Seit 2015 haben wichtige Beitragszahler Nullwachstumsbudgets durchgesetzt – obwohl die Zahl der Fälle stark gestiegen ist. Inzwischen untersucht der Gerichtshof 16 Verfahren auf mehreren Kontinenten. Im Dezember 2024 genehmigten die Mitgliedstaaten 195 Millionen Euro (206 Millionen USD) für 2025 und blieben damit 7 Millionen Euro unter dem angeforderten Etat von 202 Millionen Euro (213 Millionen USD).

Die chronische Unterfinanzierung hat die Anklagebehörde in die Abhängigkeit von freiwilligen Beiträgen gedrängt. Kritiker warnen, dass dies die Rechtsprechung politisiert. Westliche Staaten lehnten Ermittlungen zu Israels Vorgehen in den palästinensischen Gebieten ab. Die Anklagebehörde stellte daraufhin nahezu das Fünffache der Mittel für die Ukraine bereit – verglichen mit Palästina. Zufall? Der Eindruck ist fatal. Wenn Budgets mit den Präferenzen der Geldgeber übereinstimmen, lassen sich Vorwürfe selektiver Gerechtigkeit kaum noch entkräften.

Doch die Ironie liegt auf der Hand: Viele Verfahren in Afrika wurden von den Staaten selbst angestoßen. Uganda, die DR Kongo, die Zentralafrikanische Republik und andere baten den IStGH freiwillig um Ermittlungen. Solange es gegen Warlords ging, war die Unterstützung groß. Der Widerstand begann erst, als amtierende Präsidenten in den Fokus rückten. Das legt nahe, dass sich die Kritik nicht grundsätzlich gegen Rechenschaft richtet, sondern gegen den Eindruck, afrikanische Staatschefs würden belangt, während westliche Machtträger unangetastet bleiben.

Gegenargumente gibt es durchaus. Viele jüngere Gräueltaten fanden in Afrika statt. Die USA, Russland, China und Israel sind zudem keine Vertragsstaaten – die Zuständigkeit des Gerichts ist daher begrenzt. Der IStGH arbeitet nach dem Komplementaritätsgrundsatz und schreitet nur ein, wenn nationale Gerichte nicht können oder nicht wollen. Wohlhabende Staaten verfügen hingegen über funktionierende Justizsysteme und können selbst strafrechtlich verfolgen.

Doch all diese technischen Einwände gehen am Kern vorbei. Wenn jede Verurteilung Afrikaner trifft, wenn Haftbefehle gegen westlich verbündete Führungspersonen folgenlos bleiben und wenn die Budgetverteilung Ermittlungen gegen westliche Gegner bevorzugt, wirkt der Gerichtshof eher wie ein Instrument machtpolitischer Interessen als wie eine Instanz unparteiischer Gerechtigkeit.

Die Verurteilung Ali Kushaybs bringt echte Gerechtigkeit. Die Beweise waren erdrückend; er tötete zwei Männer eigenhändig mit einer Axt und ordnete Massenexekutionen an. Das internationale Strafrecht existiert, um Rechenschaft sicherzustellen und das Leid der Opfer anzuerkennen. Der IStGH hat Täter zur Verantwortung gezogen, die sonst wohl straffrei geblieben wären.

Doch einzelne Schuldsprüche können strukturelle Fehlentwicklungen nicht beheben. Der IStGH arbeitet in einem grundsätzlich ungleichen System, in dem Macht darüber entscheidet, wessen Verbrechen überhaupt untersucht werden. Solange kein Nichtafrikaner verurteilt wird – nicht nur angeklagt –, wird das Etikett vom „Afrika-Gericht“ haften bleiben. Und solange mächtige Staaten nicht dieselbe Rechenschaftspflicht tragen wie schwache, werden Vorwürfe des Neokolonialismus jede Anklage begleiten.

Der IStGH braucht drei Dinge, um bestehen zu können: eine verlässliche Finanzierung, die seinem Mandat entspricht – und keine politisch motivierte Haushaltskürzung; Durchsetzungsmechanismen, die Festnahmen unabhängig von der Macht der Beschuldigten ermöglichen; und Verfahren, die zeigen, dass internationales Recht für alle gilt.

Die Verurteilung Ali Kushaybs zeigt, dass Gerechtigkeit für Massengräueltaten möglich ist. Ob sie jedoch für alle Täter möglich sein wird – unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit oder dem Einfluss ihrer Verbündeten –, bleibt die entscheidende Frage. Ohne Fortschritte droht der Gerichtshof genau das zu werden, was Kritiker ihm vorwerfen: ein Instrument der Mächtigen, um die Schwachen zu disziplinieren, während er selbst für die Einflussreichen unerreichbar bleibt.

Bild: Eröffnung des Gerichtsjahres 2025 beim Internationalen Strafgerichtshof. Am 24. Januar 2025 hielt der IStGH eine feierliche Sitzung ab, mit Reden der diesjährigen Hauptrednerin, Dineke de Groot, Präsidentin des Obersten Gerichtshofs der Niederlande, sowie der Gerichtsspitze und der Präsidentin der IStGH-Anwaltsvereinigung. Auch Richterinnen des Gerichts, die Präsidentin der Versammlung der Vertragsstaaten, Botschafterin Päivi Kaukoranta, sowie Vertreterinnen des diplomatischen Corps, der Justiz, der Zivilgesellschaft und internationaler Organisationen nahmen vor Ort in Saal 1 oder per Livestream teil. © ICC-CPI
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