Skip to main content

Die Vergewaltigung und Folter eines palästinensischen Gefangenen im Internierungslager Sde Teiman am 5. Juli 2024 wurde nur dank zweier Menschen öffentlich: eines ranghohen Militärjuristen der IDF und eines israelischen Journalisten. Der Militäranwalt, der das Video der Tat durchsickern ließ, sitzt inzwischen in Untersuchungshaft und muss sich wegen eines schweren Vergehens vor Gericht verantworten. Der Journalist, der die Aufnahme veröffentlichte, lebt aus Angst um sein Leben im Verborgenen und wird selbst als Straftäter diffamiert. In einer verdrehten Logik der Justiz jagen Gerichte und Regierung derzeit die beiden Whistleblower, während die fünf Männer, die den Palästinenser vergewaltigt haben sollen, kaum zur Rechenschaft gezogen werden.

Im Jahr 2021 galt Yifat Tomer-Yerushalmi als Shooting Star der Militärjustiz. Die Generalmajorin, damals frisch ernannte Militärstaatsanwältin, war erst die zweite Frau in der Geschichte der IDF, die diesen Rang erreichte. Verteidigungsminister Benny Gantz feierte sie seinerzeit als „Wegbereiterin“.

Wie sich die Zeiten gewandelt haben: Am 2. November 2025 machte Ministerpräsident Benjamin Netanyahu Tomer-Yerushalmi plötzlich für „vielleicht den schwersten PR-Schaden verantwortlich, den der Staat Israel seit seiner Gründung erlitten hat“. Der Vorfall im Internierungslager Sde Teiman in der Negev-Wüste habe „dem Ansehen des Staates Israel [und der Streitkräfte] enorm geschadet“. Netanyahu warf der obersten Militärjuristin „Verrat“ vor und behauptete, sie habe an einer „Blutverleumdung“ gegen die fünf mutmaßlichen Täter mitgewirkt.

Um es klar zu sagen: Nach Netanyahus Logik ist nicht die mutmaßliche Gruppenvergewaltigung und grausame Misshandlung eines palästinensischen Gefangenen durch IDF-Soldaten in Sde Teiman der größte Imageschaden in der Geschichte Israels, sondern die Tatsache, dass eine mutige Militärjuristin, Yifat Tomer-Yerushalmi, die Wahrheit öffentlich machte.

Politische Beobachter weisen darauf hin, dass Netanyahu, seine rechtsgerichtete Regierung und deren Anhänger die Hetzjagd auf Tomer-Yerushalmi gezielt instrumentalisieren, um ihren Kampf für eine „Justizreform“ neu zu entfachen und die Macht dessen zu begrenzen, was sie als Israels „Deep State“ wahrnehmen. Der Politikanalyst Ori Goldberg sagte Al Jazeera: „Die Vergewaltigung spielt keine Rolle, … wichtig ist die Frau, die das Video durchgestochen hat – und das, was sie den Deep-State nennen.“ Und weiter: „Für Netanyahu und andere ist das der Beweis dafür, dass dieser Deep-State sich zu weit aus dem Fenster lehnt.“ Das Ziel der Regierung sei es, die hoch umstrittene Justizreform (von Kritikern als „Justizputsch“ bezeichnet)  wieder auf die Agenda zu setzen, die Exekutive zu stärken und jede zivile Kontrolle über die Regierung auszuschalten. Diese Reform würde Netanyahu vor weiterer Strafverfolgung schützen. Sein Korruptionsprozess ruht seit Beginn seines Krieges gegen Gaza.

Neben Yifat Tomer-Yerushalmi verdient auch der Journalist Guy Peleg Anerkennung – jener Reporter, der das geleakte Video veröffentlichte. Doch statt Dank überzieht Israels rechtsgerichtete Regierung ihn mit dem Vorwurf der Kriminalität, nur weil er belegte, dass die Ermittlungen zu den Übergriffen von IDF-Soldaten auf einen palästinensischen Gefangenen auf Fakten basierten. Rogel Alpher brachte es in einem Kommentar in Haaretz vom 5. November 2025 treffend auf den Punkt: „In einer Demokratie wäre das Journalismus. Im Israel von heute gilt es als Straftat.“

Der ultrarechte Kultusminister Amichai Eliyahu – derselbe Politiker, der nach dem 7. Oktober forderte, eine Atombombe auf Gaza zu werfen – verlangt nun, Guy Peleg ins Gefängnis zu schicken. Eliyahu war im Juli 2024 sogar in einen Armeestützpunkt eingedrungen, um gegen die Ermittlungen gegen die betroffenen Reservisten zu protestieren.

Peleg steht inzwischen rund um die Uhr unter Personenschutz – zu groß sind die Drohungen gegen sein Leben.

Doch nicht nur die Wahrheit steht im heutigen Israel unter Beschuss, sondern auch die freie Presse. Netanyahus rechtsgerichtete Regierung brandmarkt unabhängige Medien als Komplizen der Hamas. Er macht sie somit damit indirekt mitverantwortlich für das Massaker vom 7. Oktober.

Tomer-Yerushalmi wird inzwischen wie eine Straftäterin behandelt. Ihr werden Betrug und Vertrauensbruch, Amtsmissbrauch, Behinderung der Justiz sowie die Weitergabe vertraulicher Informationen durch eine Amtsträgerin vorgeworfen. Sie hat zugegeben, das Video weitergegeben zu haben, und am Freitag, dem 31. Oktober 2025, ihren Rücktritt angekündigt. Am 2. November 2025 wurde sie festgenommen.

Die IDF teilte mit, dass die israelische Polizei eine strafrechtliche Untersuchung zum Leak des Misshandlungsvideos eingeleitet habe, das einen Gefangenen aus Gaza im Jahr 2024 im Internierungslager Sde Teiman zeigt. Zudem werde „die (mögliche) Beteiligung von Mitarbeitenden der Militärstaatsanwaltschaft“ geprüft, die den Vorgang vertuscht haben könnten.

Das Video war erstmals im August 2024 durch Guy Peleg auf Kanal 12 öffentlich geworden. Die Reservisten wurden im Februar 2025 wegen schwerer Misshandlung und gravierender Verletzungen des Gefangenen angeklagt. Um die Identität der mutmaßlichen Täter zu schützen, verhängte das Gericht eine Nachrichtensperre über ihre Namen. Ironischerweise sitzen die Beschuldigten nicht in Untersuchungshaft – im Gegensatz zu Tomer-Yerushalmi, die in der Justizvollzugsanstalt auf ihren Prozess wartet.

Traurig und zugleich bezeichnend ist, dass im Israel Netanyahus nicht das ursprüngliche Verbrechen und die mutmaßlichen Täter im Mittelpunkt stehen, sondern die Whistleblowerin, die es aufgedeckt hat.

Israels Folter und Misshandlung palästinensischer Gefangener ist kein Geheimnis und seit Jahren immer wieder Thema in den Medien. Seit dem Krieg gegen Gaza haben die Übergriffe noch zugenommen, teils mit offener Rückendeckung einzelner Politiker. Nach Angaben der Vereinten Nationen sind seit dem 7. Oktober 2023 mindestens 75 palästinensische Häftlinge in israelischen Gefängnissen gestorben. Nicht alle ihre Leichname wurden den Familien zurückgegeben.

Die Körper jener Palästinenser, die in israelischer Haft starben und den Familien tatsächlich übergeben wurden, zeigen deutliche Spuren von Misshandlung. Viele weisen Verletzungen auf, manche tragen noch Augenbinden oder Handschellen. Einige Leichname sollen Gliedmaßen oder Zähne fehlen, andere schwere Brandwunden aufweisen, berichtet das palästinensische Gesundheitsministerium in Gaza.

Die Gruppenvergewaltigung des palästinensischen Gefangenen in Sde Teiman am 5. Juli 2024 ereignete sich, während der Mann „gefesselt an Händen und Füßen und die Augen verbunden“ war. Aufnahmen der Überwachungskamera legen nahe, dass Soldaten strafbare Handlungen begingen. Die Taten selbst sind auf dem Video nicht zu sehen, weil die Soldaten ihre Übergriffe hinter hochgehaltenen Schutzschildern verbargen. Doch die Anklageschrift gegen die Reservisten hält fest, dass sie „mit massiver Gewalt gegen den Gefangenen vorgingen, darunter das Stechen mit einem spitzen Gegenstand in dessen Gesäß, der in die Nähe des Rektums eindrang“. Weiter heißt es, „die Gewalt habe beim Gefangenen schwere Verletzungen verursacht, darunter gebrochene Rippen, eine punktierte Lunge und einen inneren Riss im Enddarm“.

„Fünfzehn Minuten lang traten die Angeklagten den Gefangenen, stampften auf ihm herum, stellten sich auf seinen Körper, schlugen und stießen ihn überall – auch mit Schlagstöcken –, zerrten ihn über den Boden und setzten einen Taser gegen ihn ein, auch am Kopf“, heißt es in der Anklageschrift.

Das palästinensische Opfer musste nach dem Übergriff notoperiert werden und wurde inzwischen nach Gaza zurückgebracht. Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass er jemals als Zeuge in dem Verfahren gegen die fünf Angreifer aussagen kann, deren Anklage mittlerweile auf „schwere Misshandlung“ herabgestuft wurde.

Das Schicksal dieses palästinensischen Gefangenen ist kein Einzelfall. Ein UN-Bericht vom Oktober 2024 hielt fest, „dass Gefangene berichteten, sie seien in käfigartigen Anlagen festgehalten und über lange Zeiträume nackt gelassen worden, nur mit Windeln bekleidet. Ihre Aussagen schildern langes Ausharren mit verbundenen Augen, Entzug von Nahrung, Schlaf und Wasser sowie Elektroschocks und Verbrennungen durch Zigaretten.“

Diese schweren Menschenrechtsverletzungen sind durch nichts zu rechtfertigen. Die Täter zu schützen und jene strafrechtlich zu verfolgen, die das Video veröffentlicht haben, ist eine völlige Perversion von Gerechtigkeit. Während die israelische Gesellschaft in Gerichten und Medien einen erbitterten Schlagabtausch über Yifat Tomer-Yerushalmi führt, gerät das eigentliche Verbrechen – eine auf Video festgehaltene Vergewaltigung – aus dem Blick des Rechtssystems. In den israelischen Medien fällt das Wort Vergewaltigung kaum noch. Keine Pressefreiheit, keine Wahrheit, keine Gerechtigkeit. Israel versucht einmal mehr, die Überbringerin der Nachricht mundtot zu machen.

Bild: Militärstaatsanwältin Yifat Tomer-Yerushalmi © IDF Spokesperson’s Unit / CC BY-SA 3.0 und der israelische Journalist Guy Peleg © Ofer Hajayov / CC BY-SA 4.0
WordPress Cookie Hinweis von Real Cookie Banner